Erzählung "Die falsche Bahn".

23. November 2021. Ich habe die falsche Bahn erwischt. Von Köln kommend steige ich aus der Linie 1, die schon in Köln Brück endet. Ich setze mich auf eine Bank , warte auf die nächste Linie. Spärliche Beleuchtung. 21.30 Uhr. Fröstelnd sehe ich mich um.
Aus dunklen Schatten bewegt sich eine schlanke Gestalt auf mich zu. Ich kann nur Umrisse erkennen, wappne mich, spanne die Muskeln an und sage mir: „Ich bin tough. Warum soll es nicht andere Menschen geben, die um diese Zeit Bahn fahren?“

Eine glimmende Kippe fliegt neben mir ins Gras. „Entschuldigen Sie? Kann ich Sie was fragen?“
Die Person, ein junger Mann, ist jetzt direkt neben mir und setzt sich.
„Ja, worum geht’s?“, frage ich verhalten.
„Das ist jetzt blöd ey, aber Sie erinnern mich irgendwie an meine Mutter.“ Ich wappne mich, bin angespannt. Blöde Anmache? Was will der Typ von mir? Höchstens 18 Jahre alt, eine Basecup verdeckt fast sein ganzes Gesicht.
„Warum?“
“Ja also, irgendwie ... die Kopfhaltung, wenn sie mir ins Gewissen redet.“
„Sie?“ Ich schweige. Aus meiner beruflichen Erfahrung mit dem Jugendschutz weiß ich: Reden lassen, nicht unterbrechen, zuhören.

Und dann sprudeln die Worte nahezu aus dem Jungen heraus: „Wenn meine Ma das sagte: ‚Nico, hör mal zu!‘, wusste ich schon, wo die Glocken hingen. Ich bin ganz normal aufgewachsen, aba dann ham die Eltern sich getrennt, weil der Alte nicht richtig im Kopf war, nämlich meistens besoffen.“
„Besoffen?“
„Ja. Bin zuhause, bei meiner Mutter, ganz normal aufgewachsen ... ja, und mein Vater, der is, ja … also die ham sich getrennt, weil er eben nicht ganz richtig im Kopf war …“
„Versteh ich nicht.“
„Ja, der war von Geburt an so. Also, der hat früher zu viele Drogen genommen. Das weiß ich halt von meiner Ma, dass seine Eltern in ihrer Zeit, 60er Jahre oder was das da so war, diese LSD-Zeit! Da haben die viel LSD gemampft und andere Drogen halt. Er ist dann auch drauf hängen geblieben oder so.“ Schnieft. „Ja, und dann hat meine Ma ihren neuen Freund kennen gelernt. Mit dem ist die immer noch zusammen. Der is ganz in Ordnung. Aber ich kam erst mal ins Heim.“
„Wie alt warst du, Nico?“
„Wie alt ich war … ich glaub zehn, elf, so um den Dreh muss ich ins Heim gekommen sein. Ja, und seitdem, tja, ich weiß nicht, was soll ich dazu noch sagen soll..." (lacht). "Ist eben mein Lebenslauf ey.“
„Wie war denn deine Kindheit zuhause Nico?“

„Ja, eigentlich hab ich ´ne recht aktive Kindheit, würd ich mal sagen.“ (lacht). „Fußball, Eishockey. Musikschule … ja, was noch? Squash hab ich gespielt, war im Schwimmverein, ey.“
„Klingt nach Stress.“
„Ja, da kann man halt nichts machen. Hab angefangen, Scheiße zu bauen in Köln. Da hat meine Ma versucht, mich von der Straße wegzuholen. Hat nicht geklappt" (lacht). "Hab ne Feier-Clique kennengelernt und Pep. (Amphetamine) War dann so energiegeladen, ich weiß nich, hatte das Gefühl, wenn ich auf Pep bin, dann krieg ich alles besser geregelt, als wie normal, find ich.“
„Hat deine Mutter auch Drogen genommen?“
„Nee. Die is ganz normal, geht arbeiten … also ein asoziales Familienleben hatte ich nicht.“
„Asozial?“
„Nein, das ganze Gedöns. Nach Außen musste immer alles schnieke sein … Hatte schon Probleme in der Grundschule. Konnte nie still sitzen und so, immer auf-gestanden … wütend mit dem Kopf auf die Bank gehauen, Stress gemacht im Unterricht … irgendwann hab ich ‚nen Brand gelegt, so´n hässlichen Makramee-Teppich im Schulflur angezündet, und bin sofort runter von der Grundschule auf ´ne andere Schule. War da ein Jahr, bin rausgeflogen, und fand mich auf so ´ner Privatschule wieder."
„Und dann?“
„Weiß nicht mehr genau. Is so viel passiert. Ich mein, ich glaub, weil ich viel Scheiße gebaut hab, oder so. Kann mich einfach nicht erinnern.“
„Mmh“
„Ach so, ja, da hat das wieder angefangen mit den Drogen, nur so ab und zu mal kiffen sonst nichts. Bin da auch wieder rausgeflogen, und dann ins Heim gekommen, Hauptschüler war ich dann. Bin dann wieder auf ´ne andere Hauptschule gewechselt, und so weiter.“

„Ständig eine neue Schule, ständig ein neues Heim. Hast du dich mal irgendwo zuhause gefühlt?“
„Selten. Wenn ich auf Pep war… Bin jetzt im Jugendwohnheim. Ist schon das Zweite.“ Schaut nervös auf seine Uhr. „Müsste längst zurück sein. Das gibt ‚ne Predigt, ey und Ausgangsverbot.“ Pause Räuspert sich. „Wollte nur mal quatschen. In den anderen Heimen wurd‘ ich immer nur eingeengt oder so, hatte keinen Ausgang, gar nichts, wie im Knast. Nichts für mich. Hier braucht man abends nur Bescheid zu sagen, wenn es später wird. Muss halt die Schule zu Ende machen. In dem Heim sind die Erzieher auch ganz anders, also in meiner Gruppe, in der ich bin.“
„Wie viele seid ihr?“
„Boah, ich weiß das gar nicht, so 30 ungefähr, 20, 25 vielleicht … wenn´s hoch kommt eher 30. Es gibt drei Gruppen. Und dann gibt´s noch fünf Tagesgruppen, ja, und dann gibt´s noch eine Gruppe, das sind halt die Leute, die alleine wohnen.“

„Und im Heim nimmst du keine Drogen?“
Nico schweigt, trommelt mit den Fingern auf die Banklehne. „Also … da gibt es keinen, der noch nie Drogen genommen hat. Hasch, Speed, Crystal, Crack. Wenn du erwischt wirst, bist du sofort raus … rauchen draußen ist erlaubt. Also meine Ma hat dafür gesorgt, dass ich ins Jugendwohnheim komme. Ohne die wär ich bestimmt schon mit 15 irgendwie in den Jugendknast gekommen oder so, keine Ahnung, hätte schon meinen ersten Jugendarrest gekriegt … ich weiß nicht, hab schon so viel Mist gebaut habe, schon mit 13 Jahren.“

Nico zündet sich nervös eine neue Zigarette an. „Hatte früher Probleme, wenn ich nicht nach Hause durfte, als ich kleiner war. Hab viel geheult, aber jetzt nicht mehr. Für mich ganz normal, hier hin zu fahren, hier zu schlafen, am Wochenende mal zu meiner Mutter oder so zu fahren, da zu pennen. Hab keine Probleme damit.“
„Zum Vater keinen Kontakt mehr?“
„Nee! Wenn ich den sehe, ey…!“
„Was dann?“
„Den seh‘ ich nicht mehr, den Penner. Ist bestimmt schon tot, oder so. Tot gesoffen.“
„Wo wohnt er?“
„Irgendwo. Weiß nicht. Is für mich tot.“ Gehetzter Blick auf die Uhr. „Is spät, muss los … Danke.“
„Wofür?“

Nico hebt eine Hand, sprintet davon und wird vom diffusen Novembernebel verschluckt. Die Lichter der Linie 1, die bis Bergisch Gladbach fährt, werden sichtbar. Aufgewühlt fahre ich durch die Nacht, einem sicheren Heim entgegen.

Resümee: Es liegt an uns, hinzusehen, auf einander zuzugehen, zuzuhören. Es sind die kleinen Brücken, die verbinden, Verständnis und Nähe schaffen, auch wenn es nur einige Minuten sind.

© Barbara Stewen 2023