Erzählung "Die gläserne Karawane".

Ich stehe auf einer Plattform mit Blick auf die Stadt. Ich sehe sie näher kommen: Die gläserne Karawane.

Flirrende Hitze in der großen Stadt. Verkehrslärm. Ein stahlgrauer, undurchdringlicher Himmel. Vogelähnliche Gebilde schwirren durch die Luft. Beobachten, filmen und lärmen.
Vögel? Nein, sie scheuen diesen Dunst. Man findet sie noch vereinzelt in verdorrten Wäldern, am Himmel und über Wiesen, die einmal, in alten Zeiten, mit ihrem frischen Grün die Augen der Menschen verwöhnten und die Tiere sättigten. Hier, in dieser Stadt sind es Drohnenschwärme. Ein Must Have, in irisierenden grellen oder einschmeichelnden Farben. Einige ähneln Riesenlibellen. Diese Art ist exklusiv und teuer. Es sind die Rolls Roys unter den Drohnen.

Für den kleineren Geldbeutel gibt es triste, graue, schwarze oder weiße Drohnen, die schnell ihre Kraft verlieren und ab und zu Passanten auf das Haupt fallen, die dann kopflos umherirren, bis dass sie von Mars-männchen gleichenden Robotern wegräumt werden, sobald sich eine Ambulanz mit gellendem Sirenenton Platz geschafft hat.

Die Einkaufsmeile dieser großen Stadt ist in vier Fußgängerspuren eingeteilt. Zwei für vorwärts Strebende, und zwei für die entgegengesetzte Richtung. Wächter aus gläsern anmutenden Stelen halten zwischen den Spuren die Menge auf Abstand, denn immer wieder gibt es gefährliche Epidemien. Die Stelen blinken in unterschiedlichen Farben. Grün signalisiert dem Menschen ’Du machst alles richtig‘, Rot meldet einen Verstoß. Die dritte Stele signalisiert ‘Du hast kein Handy oder es funktioniert nicht. Du gehörst hier nicht hin.

Ebenso durchsichtig sind die Schutzhelme aus Acrylglas mit Augenschlitzen, die jeder Passant in dieser Einkaufsmeile trägt. In ihrer Form erinnern sie an Helme griechischer Krieger.

Bildhaft bewegt sich ein Heer folgsamer Menschen durch die Stadt, beobachtet von Überwachungskameras. Diese verbergen sich auch in der wallenden Stuckmähne einer Medusa, die das alte Kaufhaus seit dem Jahr 1900 schmückt. Mit durchdringendem Blick scheint Medusa die Karawane zu verfolgen. Ein Zurück gibt es nicht.

Sobald jemand die Spur, ohne Zeichen zu geben verlässt, erklingt ein warnender Ton, denn es ist Pflicht, einen Waymaker zu tragen. Besteht der Wunsch die Spur zu wechseln, zum Beispiel, um in ein Geschäft zu gelangen, ist ein Druck auf den Waymaker erforderlich, der mit dem Handy verbunden ist. Ohne Waymaker ist der Mensch, der sich in dieser Karawane befindet, im Gedränge der Hetzenden ein Verlorener, muss bis zum nächsten Kontroll- und Ausgangspunkt der Einheitsspur folgen, und das kann dauern. Ein armer Tropf im Schwarm der Kolonne, wer sich ein Handy gar nicht leisten kann oder es vergessen hat.

Jetzt, im flirrenden Sonnenlicht, wirken die Menschenschlangen wie eine Karawane Durstiger, die dem Erfolg und gesellschaftlichen Anreizen nachrennen, und nicht selten im Burnout am Ende der Spur zusam-menbrechen. Ohne Verbindung zu neusten Technologien ist der Mensch ein Nobody, bleibt auf der Strecke. Das Zauberwort: „Ich bin online, also bin ich“, ist verspielt, es sei denn, das Individuum denkt und tröstet sich mit dem Zitat ‘Ich bin, ich existiere‘. Aber wer hat hier in diesen Kolonnen und in dieser Zeit Descartes gelesen, hat Muße, sich zu hinterfragen, sich selbst zu erkennen und zu besinnen? Nein, keine Zeit für eigene Gedanken, dem Trend nacheilen und Tagträume verscheuchen. Hektische Betriebsamkeit erfasst die erschöpften Figuren, die sich am Ende des Tages an hunderten von Smileys und Likes ergötzen, aber deprimiert über Emojis mit herunterhängenden Mundwinkeln sind und des nachts von Alpträumen geplagt werden.

Wenden wir uns einem Passanten zu: Sven Nichtmann. Er eilt, wie jeden Tag, durch seine Spur. Auch seine Lebensschleife hetzt ihn von Termin zu Termin. Er schwitzt unter den Acrylhelm, den feinsten Schurwollfasern seines Anzuges und dem bügelfreien, Polyester durchwirktem Oberhemd. Maßarbeit. Sein Handy meldet sich. Sein In - ear Haedset signalisiert: Seine Frau Ceres möchte ihn erreichen: „Kannst du mir heute Abend ein Brot, Aufschnitt, Butter und ...“ Die Einkaufsliste ist lang. Sven Nichtmann bricht der Schweiß aus. Mein Terminizer ist rappelvoll. Bitte nicht noch mehr Termine. Wie soll ich das schaffen? denkt er, bleibt stehen und wird spröde von der seitlichen Stele aufgefordert: „Sie verlassen die Spur, ohne das Signal gegeben zu haben. Ordnen Sie sich ein!“ Er seufzt und sagt zögernd: „Liebling, das geht jetzt nicht. Ich bin in Schlange Zwei und es dauert mindestens fünf Minuten, bis dass der Weg zur ersten Spur und zur Einkaufsmeile frei ist. Du kennst doch den Ablauf. Außerdem kannst du doch alles über unsere Alexa bestellen.“ Alexa ist das Home-Sprechgerät der Familie Nichtmann. „Nein, Sven, eben nicht! Alexa macht das Radio, den CD-Player, das Licht, die Waschmaschine, den Herd an, aber was soll da köcheln, wenn die Töpfe leer sind?“
„Ach Ceres, du bist doch nicht von gestern. Melde dich über ‘my Taxi‘ und bestell dir eine Pizza.“ Ungnädig unterbricht Ceres das Gespräch mit einem unangenehmen ‘Klack'.

Ceres, mein kleiner Planet, denkt Sven Nichtmann, so hab‘ ich sie genannt, als sie noch jung war und mit mir sehnsüchtig in den Himmel schaute. Ach, wie ich vor Wonne erschauerte, wenn sie sich zu mir herabließ. Ihr Name verhieß nicht nur, dass mein Himmel voller Sterne war, sondern auch, dass sie, Ceres, in der Antike als Göttin der Fruchtbarkeit und der Landwirtschaft, wohl mal ein Essen auf den Tisch zaubern kann, statt nur Serien wie ‘desperate housewives‘ anzusehen und sich auch so aufzuführen, nebenher zu twittern und über den tausendsten Facebook Freund zu jubeln…

Halt, Sven Nichtmann denkt! Versinkt tatsächlich kurz in die Welt der Antike, und das muss er büßen. Er ist gegen eine Stele gestoßen und wird durch ein gellendes Signal rüde zur Ordnung gerufen. Peinlich, nur noch kopfschüttelnde Spurengänger. „Da hat doch einer mitten am Tag nachgedacht, ist aus der Reihe gefallen“, wispern einige hinter hervorgehaltener Hand und schauen mitleidig zur Seite, an ihm vorbei.

Sven Nichtmann schielt noch einmal zum Einkaufscenter hinüber. Wie im Parkhaus prangen auch hier neonfarbige Lettern, die darauf hinweisen, dass nur noch zehn Besucher Platz haben. Mist, denkt Nichtmann, wenn ich mit dem Einkauf eine milde gestimmt Ceres bei Nacht vorfinden will, müsste ich doch hineingehen. Aber ich fürchte das ‘Medical Thermometer‘ am Eingang. Ich schwitze und schätze, dass meine Körpertemperatur über 37 Grad Celsius ist. Die Folgen sind gar nicht auszudenken. Quarantäne. Mein berufliches Aus. Darum eilt er weiter, dem Bankenviertel zu. Endlich. Die letzte Stele ist passiert. ‘Erfolg, Fortschritt, Effizienz, wir machen es möglich‘ steht in goldenen Lettern über dem imposanten Eingangsportal. Sven Nichtmann eilt mit pflichtgemäßem Lächeln, das eher an Kieferschmerzen erinnert, in die ‘Business Organization‘, seine Abteilung. Brust raus, vorbei an Roboterschlangen, die niedere Dienste verrichten. Rein in den Trubel, mit den Wölfen heulen. Er passiert den Kollegen Sporenmann, der ihn angrinst und schon an seinem Stuhl sägt und in den Startlöchern steht, bereit zum Run um Nichtmanns Job. Sogar Robotec, ein brandneuer Roboter und Sekretär, wird ihm langsam unheimlich. Nichtmann setzt sich, atmet auf: „Bring mir mal einen Kaffee, Robotec.“ Der verweigert sich, rollt mit schwarz glänzenden Kulleraugen: „I don’t understand, plase speak english“, quäkt er.

„Coffee please!“, ruft Nichtmann und schließt entnervt die Tür. Dieser Robotec ist wohl auch auf meinen Job scharf, geht es ihm durch den Kopf. Dann versinkt er in seine Arbeit, die er gründlich erledigt. Ein neuer Rationalisierungsplan! Er speichert alles ab und drückt auf ‘Senden‘. Geschafft! Er atmet auf. Doch noch einmal blickt er zurück, setzt sich wieder hin und liest stolz das Dokument ein zweites Mal durch und erstarrt: Er hat sich eben selbst wegrationalisiert!

Erschöpft betritt er am Abend das Haus, um sich in Ceres Arme zu werfen. Die Wohnung ist völlig in Dunkelheit getaucht ist. Er ruft: „Ceres, Ceres?“ Bedrückende Stille. „Alexa, Licht an!“ Nichts passiert. Auch das Radio reagiert nicht auf seine Befehle. Er tastet selbst nach dem Lichtschalter, findet ihn und es wird hell. „Geht doch“, sagt er und erschrickt bis ins Mark. Im grellen Licht erblickt er eine kalte, verlassene Wohnung. Sein kleiner Stern Ceres ist weg, und Alexa auch. Er ist allein auf sich gestellt, aber er hat ein Handy und ist online.

Doch unüberhörbar das nahende Surren einer Drohne, die über dem Haus kreist, abdreht und sich im Zwielicht des schwindenden Tages verliert.

©Barbara Stewen 2020