Erzählung "Schluss mit den alten Zöpfen".Szene 1: Ein stürmischer Apriltag im Jahr 1960. Während einer Fahrradtour ins Dorf prasseln Regengüsse auf Maries Anorak. Ihr rotkariertes Kopftuch flattert im Wind.
Am Ziel angekommen, dem einzigen Frisörsalon des Ortes, stellt sie ihr tropfendes Rad in den Fahrradständer, direkt vor das Panoramafenster des Salons. Neugierig lugt sie durch die beschlagenen Scheiben. Mit dem Ärmel wischt sie ein kleines Stück frei, um einen Einblick ins Geschehen im Frisörladen zu bekommen.
Die neusten Frisurkreationen sind wie zu einer Patrouille aufgereiht. Dazwischen erkennt Marie Haarsprayflaschen mit vergilbtem Etikett, Schachteln der beliebten Mouson Creme, die Mutters Kummerfalten einen sanften Touch verleiht. Auch das unersetzliche Toska Parfüm, Highlight vieler Landfrauen, das schon so manchen Ehemann in Ektase, oder gar in den Wahnsinn trieb.
Vermischt mit herzhaftem Stallgeruch ist es eher ein Eau de Tristesse, die letzte Wahrnehmung der sterbenden Fliegen am klebrigen Insektenband über dem Küchentisch.
Es wird ein Gerede geben, denkt Marie und sieht schemenhaft die Umrisse ihrer verschnittenen Haare im Fenster.
Sie gibt sich einen Ruck, schüttelt Regentropfen von der nassen Jacke, atmet tapfer durch und betritt, betont selbstbewusst, den Salon.
Purzelbäume vor Aufregung im Herzen.
Trotz des westfälischen ‚Shitwetters’ sind einige Dorfbewohnerinnen schon unter der Haube. Sie haben sich von Kochtopf, Kindergeschrei und Putzeimer verabschiedet. Ihre hungrigen Männer mit einer ‚kalten Platte‘ zum Abendessen vertröstet, denkt Marie
Aber das sind Ausnahmen. Zurück zu Marie. Die Luft im Salon ist schlimmer als Vaters Zigarrenqualm, der daheim den Tapeten antiken Charakter verleiht, schießt es ihr durch den Kopf. Prompt muss sie nießen. Da steht sie, triefend nass, Teenager, 15 Jahre alt, und zieht mit großer Geste ihr Kopftuch herunter. Einsetzende Stille im Salon. Sogar der Föhn schweigt. Man könnte eine Haarnadel fallen hören. Frisörmeister Welle starrt sie an, reißt den Mund auf. Seine Schere fällt ihm aus der Hand.
Eine Lage stacheliger Dauerwellröllchen folgen, kullern über den Fußboden, verbinden sich mit abgeschnittenen Haaren, haften an ihnen und verleihen ihnen das Aussehen kleiner, wilder Monster, die auf dem Boden toben.
Drei Frauen mit pastellfarbenen Haarnetzen lassen abrupt die ‘Bunte Illustrierte‘ sinken und durchlöchern Marie mit Stecknadelblicken.
Szene 2 Was ist passiert? Wir drehen die Zeit um drei Stunden zurück: Marie ist allein im Haus. Sie mag das, hat Zeit für sich. Sie hat einen Plan, der Vorbereitungen braucht. Zunächst wird Großmutters alter Garderobenspiegel vom Flur ins Wohnzimmer geschleppt. Sie hievt ihn auf den Wohnzimmertisch. Er ist mit Facettenschliff versehen, sehr schwer. Er muss gestützt werden. Sie sieht sich um und greift ins Bücherregal mit Großvaters Buchsammlung „Spamers illustrierte Weltgeschichte, in sieben Bänden, vom Altertum bis in die Neueste Zeit.“ Marie legt die dicken Wälzer vor den Spiegel, damit er nicht wegrutscht. Mit so viel Kulturgeschichte gestützt. Das muss halten, denkt sie und reibt sich vor Vergnügen die Hände. Eine aufgeschlagene Illustrierte liegt schon auf dem Nussbaum- Wohnzimmertisch. Es ist die damals schon bekannte ‘Revue‘. Bewundernd blickt Marie auf die Starfotos der Schauspielerin Jean Seeberg, deren Gesicht mit dem bezaubernden Lächeln durch einen streichholzkurzen Haarschnitt gekrönt wird. Lange versinkt Maries Blick in der Abbildung, prägt sich jede Kleinigkeit ein. Dann folgt die Betrachtung ihrs Abbildes im Spiegel. Ein Seufzer, tief aus der Seele, ist das Ergebnis der Betrachtung. „Langweilig, öde“, sagt Marie. Deprimiert schüttelt sie den Kopf. Ihre brave Ponyfrisur mit den Zöpfen, die man seitlich flechten und auch als Affenschaukeln oder aufgerollt als “Schnecken“ trägt. Das wirkt altbacken und spießig. Wer trägt denn heute noch “Schnecken“ auf den Ohren? Und der Name “Affenschaukeln“ gibt bei den Jungens Anlass zu Lästerei. Offene Haare, oh Gott, die darf ich schon mal gar nicht tragen, denkt sie resigniert. Nach ihrem ersten Versuch, sich von Klammern und Schleifen ihrer Zöpfe zu befreien, war der Vater erbost. „Bist du von einer Tarantel gestochen? So läufst du mir nicht durchs Dorf! Mit der Mähne bist du bald bekannt wie ein bunter Hund! Der lange Pony muss auch weg! Den steckst du sofort wieder mit Mutters Haarklammern zur Seite, sonst denkt man noch, du wärst ein …“ Na was denn, denkt Elisa. Spricht es lieber nicht aus. Ja, mit dem Vater ist nicht zu spaßen. Zurück zum Tisch mit dem aufgestellten Spiegel.
Marie gibt sich einen Ruck. Entschlossen greift sie zu den Instrumenten ihrer Operation ’Wie mache ich das Beste aus meinem Typ? ‘
Kamm und Schere liegen bereit.
Marie schneidet zunächst die Zöpfe und dann alle Haare streichholzkurz ab. Doch wie lang ist ein Streichholz?
Einige Mädchen in meiner Klasse haben schon diese „Pariser Lausbubenfrisur“. Sie tragen dazu dunkle Rollis und schwarze Hosen oder Jeans. Die Spitzen der Haare werden mit ein wenig Wasserstoffsuperoxyd aufgehellt. Très chic! All das darf ich nicht. Sogar Jeans sind verboten, und einen pechschwarzen Pullover bekomme ich schon gar nicht. „Schwarze Fingernägel kannst du umsonst haben, wenn du tüchtig im Garten hilfst, Unkraut zu jäten“, lästerte Otto, ihr großer Bruder, und sie streckte ihm, wie üblich nach solchen Kränkungen, die Zunge heraus. Marie überlegt. Als Notlösung des neuen Looks muss der nachtblaue Pullover mit halsfernem Rollkragen dienen, den ich mir selbst gestrickt habe. Ich habe ein wenig mit Wäschefarbe nachgeholfen. Den zieh ich jetzt an. Doch auch ein zweiter Blick in den Spiegel kann Marie nicht zufrieden stellen. Da fehlt noch etwas. Stimmt. Der tragisch existenzialistische Ausdruck Jean Seebergs. Marie versucht, ihn durch Betonung ihrer Augen zu erreichen, indem sie reichlich mit „Tana-Wimperntusche“ ihrer älteren Schwester nachhilft. Sie malt und malt, denn sie malt gerne und ist richtig in ihrem Element. Der dunkel gerahmte Garderobenspiegel, der schon zwei Weltkriege mitgemacht und an einigen Stellen blind und matt geworden ist, gibt das leicht verschwommene Bild eines spitzbübischen Mädchengesichtes wider, das von stoppeligen, unregelmäßig abstehenden Haarfransen umrahmt wird. Augen, schwarz, übernächtigt und ein wenig verrucht, blicken Marie an. Was das Wort ‘verrucht‘ bedeutet, weiß sie nicht, findet aber ihre Veränderung sehr gelungen und ist selbst von dem Ergebnis ihrer Bemühungen angetan. Aus dem Grundig Kastenradio tönt nun verbotene Jazzmusik aus Amerika, statt des schmalzig einschmeichelnden Epos „Warum ist es am Rhein so schön“, gesungen von Willi Schneider. Ein Lied, das die Eltern stets verklärt gucken lässt. Summend im Takt tanzend, räumt Marie alle Spuren ihrer Verwandlung beiseite. Die Locken verabschiedet sie mit dem Nachruf: „Ab mit euch, in den Mülleimer!“ „Heute beginnt für mich ein neues Leben“, summt sie Sie schwärmt nicht nur für Jean Seeberg, sie mag auch Jazz, Elvis Presley, den Schauspieler Anthony Perkins und die Künstler Bernhard Buffet und Lionel Feininger. Szene 3: Der Schlüssel der Haustür. Die Mutter kommt herein.
Der gerade begonnene Neustart der jungen Marie bewirkt einem lauten Schrei, den Edvard Munch malerisch nicht besser hätte darstellen können!
Dieser Schrei des Entsetzens kommt aus dem weit geöffneten Mund der Mama, die, abgehetzt durch ihre Einkäufe, die Bühne betritt.
Marie sieht sich um: Sie entdeckt nichts, was diesen Aufschrei gerechtfertigt hätte.
„Mein Gott! Wie siehst du denn aus?!“
Watsch, eine Ohrfeige ist fällig. Erschreckt hält Marie sich die schmerzende Wange, tapfer aufsteigende Tränen unterdrückend.
Nervös kramt die Mutter in ihrer Geldbörse und streckt der „Pseudo-Existenzialistin“ mit vernichtendem Blick zehn Mark hin.
„Mit der Frisur kannst du dich nicht auf der Straße sehen lassen! Du gehst sofort zum Frisör!“
Szene 4: Nach dem Frisörbesuch, zwei Stunden später. Es hat aufgehört zu regnen. Strahlend ihr Spiegelbild im Schaufenster betrachtend, geht Marie in der warmen Aprilsonne auf ihr Fahrrad zu. Ein Junge aus dem Gymnasium, für den sie heimlich schwärmt, saust mit seinem Rennrad vorbei, bremst kurz, pfeift und ruft im Vorbeifahren: „Pariser Lausbub!“ Lachend schüttelt Marie den Kopf und ruft: „Natürlich! Was denn sonst.“ Ihr Einsatz hat sich gelohnt. Gut gelaunt gönnt sie sich noch einen Besuch in der neuen Eisdiele ‘Fontanella‘ mit einem dicken Eisbescher ‘Rimini'. © Barbara Stewen
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