Erzählung "Nie wieder".

Diese Erzählung las ich im Rahmen der Autorenlesung "Schlimmstenfall wird alles Wut?" am 10. Oktober 2024 in der Pfarrkirche St. Agnes in Köln.

Nie wieder

Schlaflos blättert Franziska Platz in vergilbten Seiten eines Fotoalbums. Erholsamer Schlaf bleibt aus. Eine Bild berührt sie besonders. Ein Mädchen mit dunklen Schillerlocken. Rachel, meine beste Freundin. Eines Tages war sie verschwunden. Habe ich es hinterfragt? Ja, ich erinnere mich.
„Wo ist Rachel, Mutter?“ Mutters knappe Antwort, als wolle sie etwas abwehren, wegwischen: „Die Juden sind weg.“
Franziska legt das Album zur Seite, geht ins Bett und fürchtet den anderen Teil der Erinnerung: Den Alptraum, der sie einholt, wenn sie in den frühen Morgenstunden einnickt, in beklemmende Düsternis versinkt:

1943: Ein zugiger, fast leerer Bahnhof. Vergammelte Abteile. Vernagelte Türen. Olivgrüne Farbe blättert von Waggons, fällt, wie welkes Laub, auf schmutzigen Beton. Verhaltenes Rumpeln in den Abteilen. Schreie? Ächzen und Kreischen eines abfahrenden Zuges zerschneidet die Nacht, als links von den Gleisen, wie aus dem Nichts, ein Bahnwärter auftaucht. Im kreisenden Licht seiner Karbidlampe werden frische Erdschollen eines Feldes am Bahndamm sichtbar.
„Sie bewegen sich“, flüstert Franziska. Ihre Stimme, eher ein Krächzen. Wellen und Dellen im Boden des trostlosen Feldes, als ob die Erde lebt. Hat sie geschrien?
Der Wärter sieht sich um. Seine knarrende Stimme, unüberhörbar preußischer Tonfall, schallt durch die Nacht: „Ein Hinrichtungsfeld erschossener Juden, gnädige Frau, allesamt Untermenschen, Partisanen und Volksfeinde. Diese Felder werden Sie öfter im Baltikum sehen. Dauert Monate, ehe die Erde sich senkt“, ruft er, wendet sich ab, stapft ans Ende der Gleise und löscht die letzte Lampe.
Schreie im Waggon? Ein winkendes Händchen, eine greinende Kinderstimme? Bin ich ganz allein in dieser Finsternis?

„Hilfe!“ schreit Franziska verzweifelt. Klopfen an der Schlafzimmertür. „Oma, hast du wieder schlecht geträumt? Heute ist dein 96. Geburtstag. Mach dich chic. Ich frisiere dich gleich … Mama hat eine Torte gebacken.“ Franziska sitzt übernächtigt im zerwühlten Bett und starrt ihre 17-jährige Enkelin an. Oma wirkt wie ein zerzauster Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, denkt sie. „Du siehst mitgenommen aus. Erzähl uns deinen Traum. Der muss echt abgefahren und ätzend sein. Danach geht es dir bestimmt besser.“
„Ach, die Träume der letzten Zeit… kein Wunder, Kind. Bei den Nachrichten, die ich jeden Tag höre, Überfälle, Messestechereien, Morde auf offener Straße, Kriege und Aufstände. Da muss ich an die 40er Jahre denken. Ihr wisst nicht, was ich alles mitgemacht habe“, fügt sie leise hinzu und fährt sich durchs wirre Haar. Sie schluckt, nickt, und in den nächsten zehn Minuten steht ihr Mund nicht mehr still. Erstmalig spricht, ‚speit‘ sie den bedrückenden Traum über die erschreckende Nacht auf dem Bahnsteig, aus.

Betretenes Schweigen. „Oma, hast du das deinem Mann erzählt, als du in Litauen angekommen bist?“ „Ja. ‚Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung, Franziska‘, hat er gesagt. Die Judenfrage ist hier gelöst‘.“ „Hört sich schlimm an.“ „Er meinte, dass schon alles geregelt war. Dass wir nichts damit zu tun hätten.“ „Das gibt es doch nicht, Oma, das schreit zum Himmel. Du hast nicht protestiert?“ „Annika, Oma ist herzkrank! Reg sie nicht auf“, rügt die Mutter.
„Ach Kind, ich musste mich, wie alle deutschen Frauen, um meine Familie kümmern. Der Ehemann bestimmte. Ich habe mich darauf verlassen, dass Vater …“ „Vater?“ „Ja, ich nannte ihn Vater. Älter als ich, gab er mir und der Familie mit den Kindern Halt, trug die Verantwortung ...“
„Okay, Oma dann erzähle ich jetzt über ein besonderes Literaturprojekt, das wir gerade in der Schule erarbeiten, ein Projekt „Gegen das Vergessen“.
„Literaturprojekt? Wie soll das helfen? Was hat das mit meinen Kriegserinnerungen und der heutigen Lage zu tun?“
„Wir wollen dazu beitragen dass es hier nie wieder Krieg gibt. Wir kämpfen friedlich gegen Hass, Intoleranz und Egoismus.“
„Wie soll das funktionieren?“
„Durch Aufklärung, Mitreden, Hinterfragen, respektvoll, ohne Gewalt. Mit dem Schulprojekt haben wir die Presse an der Seite. Sie wird auf unsere Veranstaltungen aufmerksam machen. Oma, wir reden hier von gesundem Widerstand und fundierter Meinungsbildung, den Werten unseres Grundgesetzes, die auf Toleranz und Menschenliebe fußt. Wir bemühen uns auch, dass eine Hinweistafel über die dunkle Geschichte unseres Bensberger Schlosses geschaffen wird.“
„Des ehrwürdigen Barockschlosses?“
„Schon vergessen? Dort war eine EliteSchule der SS. Später wurde daraus eine Zweigstelle des KZ Buchwald.“
„KZ hier im Bergischen?“ Franziska schüttelt den Kopf.
„Ja! Wir haben alles in den Archiven geprüft, engagieren uns dafür, dass an diesem historischen Ort ein Hinweis gegen das Vergessen an-gebracht wird. Die Schule hat erreicht, dass wir für einen Monat ei-nen Stand auf dem Markt haben, um mit Passanten zu diskutieren.“

„Ich wünsche Euch, dass Ihr erreicht, wozu wir damals nicht den Mut hatten; zu sensibilisieren, die Welt menschlicher zu machen.“

©Barbara Stewen